* 18 *

18. Die Hüterhütte

 

Jenna

Es war die Stille, die Jenna am nächsten Morgen in der Hüterhütte weckte. Nachdem sie zehn Jahre lang jeden Tag durch den geschäftigen Lärm in den Anwanden aufgewacht war, vom Radau und Geschrei der sechs jungen Heaps gar nicht zu reden, war die Stille ohrenbetäubend. Sie öffnete die Augen, und einen Augenblick lang glaubte sie noch zu träumen. Wo war sie? Warum lag sie nicht zu Hause in ihrem Schrankbett? Warum waren nur Jo-Jo und Nicko hier? Wo waren ihre anderen Brüder?

Und dann kam die Erinnerung.

Sie setzte sich leise auf, um die Jungen nicht zu wecken, die neben ihr vor dem Kamin schliefen. Sie legte sich die Bettdecke um, denn obwohl das Feuer noch glomm, war die Luft in der Hütte feucht und kühl. Zögernd fasste sie sich an den Kopf.

Es stimmte also. Das Diadem war noch da. Sie war noch immer Prinzessin. Es war nicht nur wegen ihres Geburtstags gewesen.

Gestern war ihr den ganzen Tag alles so unwirklich vorgekommen, wie immer an ihrem Geburtstag. Als sei dieser Tag irgendwie Teil einer anderen Welt, einer anderen Zeit, und als ob alles, was an ihm geschah, nicht wirklich geschehe. Und dieses Gefühl hatte sie durch all die erstaunlichen Ereignisse an ihrem zehnten Geburtstag begleitet, das Gefühl, dass, ganz gleich was geschah, am nächsten Tag alles wieder normal sein würde, sodass es im Grunde überhaupt keine Rolle spielte.

Aber nichts war normal. Und es spielte sehr wohl eine Rolle.

Jenna verschränkte die Arme, um sich zu wärmen, und dachte nach. Sie war eine Prinzessin.

Sie und Bo, ihre beste Freundin, hatten sich oft vorgestellt, sie wären verschollene Prinzessinnenschwestern, die bei der Geburt getrennt und vom Schicksal in einer Schulbank der 6. Klasse an der Dritten Nordschule wieder zusammengeführt worden waren. Sie hatte es beinahe geglaubt – irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es stimmte. Wenn sie bei Bo zu Hause war, hatte sie jedoch nicht den Eindruck, dass Bo zu einer anderen Familie gehörte. Mit ihren rotblonden Haaren und ihren vielen Sommersprossen sah sie ihrer Mutter so ähnlich, dass sie einfach ihre Tochter sein musste. Einmal hatte sie Bo darauf angesprochen, doch die hatte so beleidigt reagiert, dass sie nie wieder davon angefangen hatte.

Allerdings hatte es Jenna nicht davon abgehalten, sich weiter zu fragen, warum sie ihrer Mutter so gar nicht ähnlich sah. Oder ihrem Vater. Oder ihren Brüdern. Wieso hatte sie als Einzige dunkles Haar? Wieso hatte sie keine grünen Augen? Wie sehr hatte sie sich immer grüne Augen gewünscht. Noch bis zum gestrigen Tag hatte sie darauf gehofft, dass sie sich irgendwann verfärben.

Sie hatte dem Tag entgegengefiebert, an dem Sarah zu ihr sagen würde: »Ich glaube, deine Augen verändern sich. Ich sehe heute deutlich eine Spur Grün.« Und später: »Du wirst schnell erwachsen. Deine Augen sind schon fast so grün wie die deines Vaters.«

Doch jedes Mal, wenn sie von Sarah wissen wollte, warum ihre Augen noch nicht so grün waren wie die ihrer Brüder, sagte sie immer nur: »Aber du bist doch unser kleines Mädchen, Jenna. Du bist etwas Besonderes. Du hast wunderschöne Augen.«

Aber davon ließ sie sich nicht täuschen. Sie wusste, dass auch Mädchen grüne Zaubereraugen bekommen konnten. Sie brauchte sich nur Miranda Bott anzusehen, die am Ende des Korridors wohnte und deren Großvater einen Secondhandladen für Zaubererumhänge hatte. Miranda hatte grüne Augen, obwohl nur ihr Großvater Zauberer war. Warum also hatte sie keine?

Der Gedanke an Sarah stimmte sie traurig. Sie fragte sich, ob sie sich jemals wieder sehen würden. Und sogar, ob Sarah noch ihre Mutter sein wollte, jetzt, wo alles anders war.

Sie schüttelte sich. Sei nicht albern, sagte sie sich, stand auf und stieg, noch in die Decke gewickelt, vorsichtig über die beiden schlafenden Jungen hinweg. Sie blieb kurz stehen, warf einen Blick auf Junge 412 und fragte sich, warum sie ihn vorhin für Jo-Jo gehalten hatte. Wahrscheinlich hatte das Licht sie getäuscht.

Bis auf das schwache Glimmen im Kamin war es in der Hütte noch dunkel, aber ihre Augen hatten sich daran gewöhnt, und so unternahm sie, die Decke auf dem Boden hinter sich herschleifend, einen kleinen Erkundungsgang durch die neue Umgebung.

Die Hütte war nicht groß. Im Erdgeschoss gab es nur ein Zimmer. Am einen Ende befand sich der große offene Kamin, auf dessen Steinplatte noch ein Haufen Holzscheite glomm. Auf dem Teppich davor lagen Nicko und Junge 412 unter warmen Flickendecken von Tante Zelda. Mitten im Zimmer war eine schmale Treppe mit einem Schrank darunter, auf dessen verschlossener Tür in schwungvollen goldenen Lettern Unbeständige Tränke und Spezialgifte stand. Jenna beschloss, die Finger davon zu lassen. Sie spähte die schmale Treppe hinauf, die in einen großen verdunkelten Raum führte, in dem Tante Zelda, Marcia und Silas schliefen. Und natürlich Maxie, dessen Schnarchen und Schniefen zu ihr herunter drang. Oder war es Silas, der schnarchte, und Maxie, der schniefte? Im Schlaf klangen Hund und Herrchen zum Verwechseln ähnlich.

Die Decke im Erdgeschoss war niedrig und bestand aus den gleichen roh behauenen Balken, aus denen die Hütte gebaut war. An diesen Balken hingen die verschiedensten Dinge: Paddel, Hüte, Muschelbeutel, Spaten, Hacken, Kartoffelsäcke, Schuhe, Bänder, Besen, Schilfgarben, Weidenknorren und natürlich hunderte Büschel Kräuter, die die Tante entweder selbst zog oder auf dem Zaubermarkt kaufte, der jedes Jahr unten in Port stattfand. Als Weiße Hexe verwendete Tante Zelda Kräuter sowohl für Zaubermittel und Tränke wie auch für Medizin. Auf dem Gebiet der Kräuterkunde machte ihr keiner so leicht etwas vor.

Jenna genoss es, dass sie als Einzige wach war und eine Weile ungestört herumwandern konnte. Sie schaute sich um. Es war schon ein seltsames Gefühl, in einer Hütte zu sein, deren vier Wände nicht an die Wände anderer Leute stießen. Hier war alles anders als in den trubeligen Anwanden, und doch fühlte sie sich schon fast wie zu Hause. Sie setzte ihren Rundgang fort und bestaunte die alten, aber bequemen Stühle und den sauberen Tisch, der nicht so aussah, als könnte er jeden Augenblick zusammenbrechen und das Zeitliche segnen. Doch am meisten beeindruckte sie der frisch gefegte Steinfußboden, auf dem nichts, aber auch gar nichts herumlag. Er war mit ein paar abgetretenen Teppichen ausgelegt, und an der Tür standen Tante Zeldas Stiefel. Das war alles.

Sie warf einen Blick in die kleine angebaute Küche. Ein großer Spülstein, blitzsaubere Töpfe und Pfannen und ein kleiner Tisch. Doch in der Küche war es viel zu kalt, um zu verweilen. Jenna wanderte ans andere Ende des Raums. In den Regalen an der Wand reihten sich Flaschen und Krüge mit Tränken, die sie an zu Hause erinnerten. Einige wurden auch von Sarah verwendet. Die Namen Froschmixtur, Wundermischung und Grundgebräu waren ihr alle vertraut. Und dann stand da noch ein kleiner Schreibtisch, tadellos aufgeräumt, mit Stiften, Papier und Notizbüchern, und drum herum schwankende Bücherstapel, die bis zur Decke reichten, genau wie zu Hause. Es waren so viele Zauberbücher, dass sie fast die gesamte Wand einnahmen, doch anders als zu Hause bedeckten sie nicht auch noch den Fußboden.

Das erste Dämmerlicht drang durch die vereisten Scheiben, und Jenna beschloss, sich draußen etwas umzusehen. Auf Zehenspitzen schlich sie zu der großen Holztür und zog ganz langsam den großen, gut geölten Riegel zurück. Dann drückte sie die Tür vorsichtig auf in der Hoffnung, dass sie nicht quietschte. Sie quietschte nicht, denn Tante Zelda war, wie alle Hexen, mit Türen sehr pingelig. Eine quietschende Tür im Haus einer Weißen Hexe war ein schlechtes Zeichen, das auf verunglückte Zauber hinwies.

Jenna schlüpfte leise hinaus und setzte sich mit der Decke auf die Stufe vor der Tür. Ihr warmer Atem bildete weiße Wolken in der kalten Morgenluft. Dichter Nebel lag über dem Moor, schmiegte sich an die Erde, wirbelte über dem Wasser und um eine kleine Holzbrücke, die über einen breiten Kanal führte. Der Kanal war randvoll mit Wasser. Er hieß Mott und umschloss Tante Zeldas Insel wie ein Burggraben. Das Wasser war dunkel und an der Oberfläche ganz glatt, als sei eine dünne Haut darüber gespannt. Doch beim genauen Hinsehen erkannte Jenna, dass es über die Ufer schwappte und auf die Insel strömte.

Seit Jahren beobachtete Jenna das Auf und Ab der Gezeiten. Daher wusste sie, dass sie nach dem Vollmond letzte Nacht heute Morgen Springflut hatten. Das Wasser würde bald wieder zurückgehen, so wie es auch im Fluss vor ihrem kleinen Fenster zu Hause immer zurückging, bis es so niedrig war, dass die Wasservögel mit ihren langen krummen Schnäbeln im zurückbleibenden Sand und Schlamm stochern konnten.

Die fahle weiße Scheibe der Wintersonne stieg langsam durch den dichten Nebel herauf, und die Stille wich dem Frühkonzert der erwachenden Tiere. Ein aufgeregtes Gackern ließ Jenna zusammenzucken und in die Richtung blicken, aus der es kam. Zu ihrem Erstaunen tauchten die Umrisse eines Fischerboots aus dem Nebel auf.

Jenna hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden mehr neue und merkwürdige Dinge gesehen, als sie jemals im Traum für möglich gehalten hätte. Deshalb war ein Fischerboot, dessen Besatzung aus Hühnern bestand, für sie nicht die große Überraschung, die es wohl sonst gewesen wäre. Sie setzte sich einfach wieder auf die Türstufe und wartete darauf, dass das Boot vorbeifuhr. Minuten vergingen, doch es kam überhaupt nicht näher, und Jenna fragte sich, ob es auf Grund gelaufen war. Abermals ein paar Minuten später, als der Nebel noch lichter geworden war, begriff sie: Das Fischerboot war ein Hühnerstall. Ein Dutzend Hennen staksten vorsichtig das Fallreep herunter und begannen ihr Tagwerk. Scharren und picken, scharren und picken.

Die Dinge sind nicht immer, was sie scheinen, dachte Jenna.

Der Schrei eines Vogels schrillte durch den Nebel, und vom Wasser kam ein gedämpftes Plätschern, das nach einem kleinen Tier klang. Hoffentlich ein Pelztier, dachte Jenna. Aber vielleicht war es auch eine Wasserschlange oder ein Aal. Sie beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken, lehnte sich gegen den Türrahmen und sog die frische, leicht salzige Luft der Marschen ein. Es war herrlich hier. So friedlich und ruhig.

»Hu!«, machte Nicko. »Hab ich dich drangekriegt, Jen!«

»Pst, Nicko«, protestierte Jenna. »Mach nicht solchen Lärm.«

Nicko setzte sich neben sie auf die Türstufe, grapschte sich einen Zipfel ihrer Decke und wickelte sich ein.

»Bitte«, sagte Jenna.

»Was?«

»Könnte ich bitte ein Stück von deiner Decke haben, Jenna? Aber gern, Nicko. Oh, vielen Dank, Jenna, das ist sehr freundlich von dir. Nicht der Rede wert, Nicko.«

»Nicht der Rede wert? Na, dann Schwamm drüber«, sagte Nicko. »Und vermutlich muss ich jetzt einen Hofknicks vor dir machen, wo du eine Hochwohlgeboren bist.«

»Jungen machen keinen Knicks«, lachte Jenna. »Du musst einen Diener machen.«

Nicko sprang auf, lüftete mit schwungvoller Geste einen nicht vorhandenen Hut und verbeugte sich übertrieben tief.

Jenna klatschte. »Prima. Das darfst du jetzt jeden Morgen machen.« Sie lachte.

»Vielen Dank, Eure Majestät«, sagte Nicko ernst und setzte den nicht vorhandenen Hut wieder auf.

»Ich frage mich, wo der Boggart steckt«, sagte Jenna schläfrig.

Nicko gähnte. »Wahrscheinlich irgendwo auf dem Boden eines Schlammlochs. Ich glaube nicht, dass er in einem Bett liegt.«

Jenna lachte. »Das wäre ihm bestimmt ein Gräuel. Zu trocken und zu sauber.«

»Also, ich gehe wieder ins Bett«, sagte Nicko. »Im Gegensatz zu dir brauche ich mehr als zwei Stunden Schlaf.« Er wickelte sich aus Jennas Decke und schlurfte zurück zu seiner eigenen, die als zerknüllter Haufen vor dem Kamin lag. Auch Jenna war noch sehr müde. Sie spürte an ihren Augenlidern dieses Kribbeln, das sie immer bekam, wenn sie nicht genug geschlafen hatte. Außerdem wurde ihr langsam kalt. Sie stand auf, raffte die Decke zusammen, schlüpfte zurück ins Halbdunkel der Hütte und schloss ganz leise die Tür hinter sich.

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